Kirche und Euthanasie: Die Ermordung Behinderter im Dritten Reich

Aktualisiert am 24.8.2023


Die nachfolgenden Fakten über die "Euthanasie" im Dritten Reich und deren geistiger Vorbereitung stammen überwiegend aus dem Umfeld der evangelischen Kirche, teilweise jedoch auch aus der römisch-katholischen (so die zweite Meldung aus dem Jahr 1927 und der Hinweis auf die Predigt von Bischof von Galen und die Folgen aus dem Jahr 1940). Für weitere Informationen aus dem Umfeld der römisch-katholischen Kirche, aber auch der evangelischen Kirche, sind wir dankbar.

Die Ereignisse im Zeitablauf

1920 – Im Meiner-Verlag in Leipzig erschien das Buch des Freiburger Psychiaters Dr. Alfred Erich Hoche (1865-1943)  und des Juristen Dr. Karl Binding, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Alfred Hoche entstammt einer evangelischen Pfarrersfamilie und wurde als Kind nach seinem Austritt aus der Volksschule zunächst von seinem Vater, dem evangelischen Pfarrer, unterrichtet. Später wechselte er an die Klosterschule Roßleben, wo im Sinne des evangelischen Reformators Philipp Melanchthon erzogen wurde.
Dr. Hoche prägte den Begriff des "geistigen Todes", übertrug diesen auf Schwerstbehinderte und schrieb:
"Ein Überblick über die oben aufgestellte Reihe der Ballastexistenzen und ein kurzes Nachdenken zeigt, dass die Mehrzahl davon für die Frage einer bewussten Abstoßung, d.h. Beseitigung nicht in Betracht kommt. Wir werden auch in den Zeiten der Not, denen entgegengehen, nie aufhören wollen, Defekte und Sieche zu pflegen, solange sie nicht geistig tot sind; wir werden nie aufhören, körperlich und geistig Erkrankte bis zum Äußersten zu behandeln, solange noch irgendeine Aussicht auf Änderung ihres Zustandes zum Guten vorhanden ist; aber wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt." (zit. nach 2. Auflage 1922, S. 56; zit. nach staff.uni-marburg.de)
Der Mediziner Dr. Ewald Meltzer (1869.1940)  hatte dieser These widersprochen und in diesem Zusammenhang Umfragen unter Vormündern und unter evangelischen Theologen durchgeführt, wobei sich nur ein einziger Bischof ausdrücklich gegen Euthanasie ausgesprochen habe. Diese Umfragen dienten später den Nationalsozialisten dazu, die Ermordung von ca. 70.000 Menschen in den Jahren 1940 und 1941 zu legitimieren (siehe dazu Udo Benzenhöfer, Der gute Tod?, Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, 2. Auflage, Göttingen 2009, S. 95f.). Auch Hoche soll später mit den konkreten Einteilungsergebnissen in "lebenswert" und "lebensunwert" nicht einverstanden gewesen sein. Doch wer die Geister rief ...
 

1927 – Parallel zur Stimmungsmache gegen die jüdischen Mitbürger (siehe hier) wird in der Kirche auch die spätere Vernichtung der Behinderten vorbereitet, was man später "Euthanasie" nennt. So erscheint 1927 z. B. das Buch Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker, ein römisch-katholisches "Standardwerk", so zumindest die Beurteilung der "Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten". Das Werk stammt von dem Moraltheologen Dr. Joseph Mayer vom Institut für Caritaswissenschaften in Freiburg (Imprimatur (= kirchliche Druckerlaubnis) vom 15.2.1927). Darin warnt Dr. Joseph Mayer u. a. vor der Sexualität Behinderter und er schreibt: "Erblich belastete Geisteskranke befinden sich in ihrem Triebleben auf der Stufe unvernünftiger Tiere" (PS: Über die "unvernünftigen Tiere" heißt es in der Bibel in 2. Petrus 2, 12, dass sie "von Natur dazu geboren sind, dass sie gefangen und geschlachtet werden").
Und an anderer Stelle schreibt Dr. Mayer in seinem römisch-katholischen "Standardwerk": "Wenn darum ein Mensch der ganzen Gemeinschaft gefährlich ist und sie durch irgendein Vergehen zu verderben droht, dann ist es löblich und heilsam, ihn zu töten, damit das Gemeinwohl gerettet wird." Ähnliche Überlegungen gibt es auf evangelischer Seite (siehe hier).
13 Jahre später, im Jahr 1940, setzen die Nationalsozialisten dann diese kirchliche Anregung in die Tat um. Dem Morden voraus ging die Zwangssterilisation, die Hauptforderung auch des kirchlichen Buches Unfruchtbarmachung Geisteskranker. Zwar spricht sich der Vatikan im Jahr 1930 offiziell gegen die Zwangssterilisation Behinderter aus (anders als die evangelische Kirche; siehe hier), doch kooperieren die römisch-katholischen Einrichtungen in Deutschland später sowohl bei der Sterilisation als auch bei der nachfolgenden Ermordung mit den staatlichen Stellen und gestehen dem Staat hier z. B. "Notwehr" zu etwa in dem Sinne, in dem es der Theologe Dr. Joseph Mayer 1927 angedacht hatte (siehe oben).


25.3.1931 – Nach Absprache mit Oberkirchenrat Hans Meiser lädt die Missionsanstalt Neuendettelsau in Bayern als erste evangelische Einrichtung in Deutschland die Nationalsozialisten zu einer "streng vertraulichen Aussprache" ein. Vor ca. 30 evangelischen Theologen spricht Direktor Dr. Friedrich Eppelein die Begrüßungsworte und sagt: "Wir erwarten uns von der NSDAP viel. Wir haben uns bis jetzt noch mit keiner Partei in ähnlicher Weise in Verbindung gesetzt und ausgesprochen" (zit. nach Mensing, a.a.O., S. 131 f.). Aus Neuendettelsau werden später deutschlandweit die meisten Behinderten zur Ermordung abtransportiert (siehe hier).


Mai 1931 – In Treysa in Hessen (in der Anstalt "Hephata") treffen sich die Anstaltsleiter der evangelischen Inneren Mission in Deutschland zu einer "Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik". Zwei Jahre vor der Machtübernahme durch die NSDAP besprechen die führenden Vertreter der evangelischen Diakonie bei dieser Fachkonferenz bereits die Sterilisierung und eventuelle "Vernichtung" "lebensunwerten Lebens". In der so genannten Treysaer Erklärung einigt man sich dabei auf  die Forderung nach einer Zwangssterilisierung Behinderter. Dies entspreche nach Überzeugung des bekannten Pastors Friedrich von Bodelschwingh aus Bethel angeblich dem "Willen Jesu". Aus diesem Grund erklärte Friedrich von Bodelschwingh auch: "Im Dienst des Königreichs Gottes haben wir unseren Leib bekommen ... 'Das Auge, das mich zum Bösen verführt usw.' zeigt, dass die von Gott gegebenen Funktionen des Leibes in absolutem Gehorsam zu stehen haben, wenn sie zum Bösen führen und zur Zerstörung des Königreiches Gottes in diesem oder jenem Glied, dass dann die Möglichkeit oder Pflicht besteht, dass eine Eliminierung [der Geschlechtsorgane] stattfindet. Deshalb würde es mich ängstlich stimmen, wenn die Sterilisierung nur aus einer Notlage heraus anerkannt würde. Ich möchte es als Pflicht und mit dem Willen Jesu konform ansehen. Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, dass alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin." (zit. nach Ernst Klee, Die SA Jesu Christi, S. 88)

Hinsichtlich eventueller Ermordungen stimmten die Leiter der kirchlichen Einrichtungen untereinander jedoch nicht überein. Der Leiter des Referates "Gesundheitsfürsorge" beim Centralausschuss der Inneren Mission, Dr. Hans Harmsen, formuliert bereits 1931 als politisches Thema, was dann später ab 1940 tatsächlich umgesetzt wurde: "Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten, Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigsten Existenzen?" (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.) "Das Protokoll enthält keinen Hinweis, dass einer der zehn Anstaltsleiter eine solche Frage unter Christenmenschen für gotteslästerlich hält ..." (Die christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus, zit. nach  humanist.de). Folglich können die späteren Ermordungen auch dank der Mithilfe der kirchlichen Stellen erfolgen.

Angehörige haben ihre Kinder oder andere Familienangehörigen in der Regel in gutem Glauben kirchlichen Einrichtungen anvertraut, weil sie der Kirche vertrauten. Doch sie wussten nicht, dass die Verantwortlichen in der evangelischen Kirche heimlich darüber diskutierten, ob man die Behinderten ermorden solle oder nicht. Und dabei ging es nicht nur um Schwerstbehinderte, sondern auch um Leichtbehinderte, wobei viele Kirchenführer bei der Diskussion einen Unterschied zwischen den Behinderungsgraden machten und eine Aufteilung versuchten zwischen "lebenswert" und "nicht lebenswert" – wohlgemerkt: gegen Ende der Weimarer Republik und noch nicht im Dritten Reich.


14.7.1933 – Nun waren die Nationalsozialisten seit einigen Monaten an der Macht. Das
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses befiehlt die Zwangssterilisation Behinderter. Die Nationalsozialisten erfüllen damit eine Forderung der evangelischen Kirche, welche die Anstaltsleiter der Inneren Mission in ihrer Treysaer Erklärung 1931 erhoben haben (siehe oben). Zu den Betroffenen gehörten schließlich auch Blinde, Taube, Stumme, Epileptiker, Alkoholiker, Körperbehinderte, seelisch Kranke, so genannte "Schwachsinnige" und viele politische Gegner, die man wegen ihrer abweichenden Einstellungen teilweise ebenfalls als "Schwachsinnige" einstuft. Sieben Jahre später, ab 1940, werden diese Menschen schließlich vergast, vergiftet, erschlagen oder man lässt sie verhungern. Und auch über mögliche Ermordungen wurde ja bereits auf der evangelischen Fachkonferenz in Treysa im Jahr 1931 gesprochen.


1933 – Karl Todt, Direktor der evangelischen Heilerziehungs- und Pflegeanstalt der Inneren Mission in Scheuern an der Lahn, ist wie andere Diakonie-Leiter von dem neuen
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses begeistert und schreibt kurze Zeit später: "Wie freudig begrüßten wir die rassenpflegerischen Maßnahmen unseres Führers, die der Auftakt sind, die Übel von der Wurzel an zu bekämpfen. So stehen wir zum Dienste bereit, Handlanger zu sein am Bau des Reiches Gottes und am Bau des neuen, des Dritten Reiches" (zit. nach Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.). Im Jahr 1941 dienen die evangelischen Einrichtungen in Scheuern dann als Zwischenstation für Behinderte auf deren Weg in das Vernichtungslager Meseritz-Obrawalde in Pommern. Von Scheuern aus werden die der Kirche anvertrauten Menschen wissentlich zur Vernichtung (Vergasung, Vergiftung, Erschlagung, Verhungern lassen) weitergeleitet.
Sehr viele Ermordungen werden z. B. auch in der Landesheil- und Pflegeanstalt in Bernburg an der Saale durchgeführt. Dort werden die Behinderten 1940 und 1941 "vergast".
Ca. 75 Behinderte werden dazu jeweils nackt in die 3 x 4 m große Gaskammer der Pflegeanstalt gezwängt. Dann wird das Gas eingeleitet und den Behinderten steht ein grausamer Todeskampf bevor. Im selben Gebäude-Komplex tun die Diakonissen des evangelischen Oberlin-Hauses Babelsberg offenbar ohne Protest ihren "Dienst".


Ab 1933 – Begeisterung in den evangelischen Diakonissenmutterhäusern über Adolf Hitler und die nationalsozialistische Regierung – "Die Leute sind toll vor Begeisterung."
(NS-Propaganda-Minister Joseph Goebbels nach einem Besuch des evangelischen Luise-Henrietten-Stifts in Lehnin im Mai 1933; zit. nach Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.)
Das Diakonissenmutterhaus in Düsseldorf-Kaiserswerth wird von der NSDAP besonders gelobt, weil es schon vor der Machtübernahme die Partei auch finanziell (!) unterstützte (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.). Im Mitteilungsblatt dieses ältesten evangelischen Diakonissenmutterhauses in Deutschland wird ein Huldigungslied auf die Nationalsozialisten, gedichtet von der Diakonisse Emma Obermeier, abgedruckt, Die braunen Kolonnen: "Das Hakenkreuzbanner weht stolz voran ... Das undeutsche Wesen zur Türe hinaus. Wir kehren mit eisernem Besen das Haus. Sieg Heil!"


September 1933 – 100-jähriges Jubiläum des Rauhen Hauses in Hamburg, eine der bekanntesten Sozialeinrichtungen der evangelischen Diakonie. Der Präsident, Pfarrer H. Schirrmacher, zu den Diakonen:
"Wir begrüßen euch alle als die SA Jesu Christi und die SS der Kirche, ihr wackeren Sturmabteilungen und Schutzstaffeln im Angriff gegen Not, Elend, Verzweiflung und Verwahrlosung, Sünde und Verderben ... Evangelische Diakonie und Nationalsozialismus gehören in Deutschland zusammen ... Ich wünsche, dass unsere jungen Brüder in den Diakonenanstalten sämtlich SA-Männer werden." (zit. nach Ernst Klee, Die SA Jesu Christi, Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt am Main 1989, Impressum-Seite)


Anmerkung: Es folgen deutschlandweit Eintrittswellen von evangelischen Diakonen in die SA. Die SA, "Görings Prätorianergarde für ungehemmten Terror" (Der Historiker Volker Hentschel, So kam Hitler, a.a.O., S. 131), gegründet bereits 1920, verübte als paramilitärische "Sturmabteilung" der NSDAP in der Weimarer Republik bereits unzählige Gewalttaten und Morde an politischen Gegnern. Das macht deutlich, in welcher Organisation das kirchliche Diakonie-Personal sich nach dem Willen eines ihrer Präsidenten engagieren soll. Die SA hatte in dieser Zeit neben den offiziellen Staatsorganen schon eigene Strukturen aufgebaut. Und die damalige
"Reichswehr betrachtete die SA als ein wichtiges Reservoir für den militärischen Nachwuchs". (Wikipedia – Stand: 4.1.2021)
Über die Führung von SA-Lagern schon im Frühjahr 1932, also am Ende der Weimarer Republik fast ein Jahr vor der NS-Machtübernahme, schreibt ein Augenzeuge: "Die Opfer, die wir vorfanden, waren dem Hungertod nahe. Sie waren tagelang stehend in enge Schränke gesperrt worden, um ihnen ´Geständnisse` zu erpressen. Die ´Vernehmungen` hatten mit Prügeln begonnen und geendet; dabei hatte ein Dutzend Kerle in Abständen von Stunden mit Eisenstäben, Gummiknüppeln und Peitschen auf die Opfer eingedroschen. Als wir eintraten, lagen diese lebenden Skelette reihenweise mit eiternden Wunden auf dem faulenden Stroh." (Der erste Gestapo-Chef Diels, zit. nach Hentschel, So kam Hitler, a.a.O., S. 136)
Im Juli 1933 übernimmt die evangelische Diakonie von der SA sogar die Leitung eines Konzentrationslagers. Über den "Landesverein für Innere Mission, Abteilung Konzentrationslager Kuhlen", schreibt Ernst Klee: "Auf kirchlichem Boden ... werden Gegner des Nationalsozialismus gequält und geschunden. Sie werden mit Gewehrkolben zur (Feld-)Arbeit getrieben, manche mit Gummiknüppeln bewusstlos geschlagen." Alle dort beschäftigten SA-Männer gelten als kirchliche Mitarbeiter und erhalten ihren Lohn von der Inneren Mission. Im Oktober werden die Insassen von Kuhlen in größere KZs überführt, das Lager wird geschlossen. Auch im KZ Papenburg arbeiten von 1933-1939 Diakone des evangelischen Stephansstifts Hannover. Sie "stehen und warten, dass man einmal auf einen Menschen schießen darf". (Ein Diakon, zit. nach Klee, Die SA Jesu Christi, a.a.O., S. 61-71)


1934 – Gedicht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern: "... du deutsche Jugend – unser Stolz, rank – zäh wie junges Eichenholz, zeig du der Welt – zeig du der Welt – trotz Hohn – trotz Spott: Ein Volk stirbt nicht, das seinem Gott die Treue hält – die Treue hält" (Jahrgang 1934, S. 365). Behinderte passten immer weniger in dieses kirchliche Denken hinein.


5.4.1937 – Der leitende Arzt der evangelischen Neuendettelsauer Fürsorgeheime, der Lutheraner Dr. Rudolph Boekh, seit 1932 auch Mitglied der NSDAP, über die Diskussion zur Vernichtung angeblich lebensunwerten Lebens: "Diese Verzerrung des menschlichen Antlitzes" sei "dem Schöpfer zurückzugeben".
Und: "
Alles Kranke, das nicht wieder der Gesundung zugeführt werden kann, ist Last ... Die Entscheidung, ob ein Mensch vernichtet werden soll, steht allein dem Mann zu, der unter Berufung auf den Schöpfer die Gewalt in seiner Hand hat ... Das kann und darf allein der Führer." (zit. nach Klee, Die SA Jesu Christi, a.a.O., S. 180)
"Der Anstaltsarzt fragte in einem Vortrag, warum man diese die Allgemeinheit belastenden Geschöpfe nicht im Interesse des gesunden Teils des Volkes vernichtet." (Film "Als hätte es sie nie gegeben", Medienwerkstatt Franken, Nürnberg 2019)
Dr. Rudolph Boekh war 10 Jahre Oberarzt der evangelischen Diakonieeinrichtungen in Bethel und kam auf Empfehlung des dortigen Pastors Friedrich von Bodelschwingh im Jahr 1936 nach Neuendettelsau. Während in dem fränkischen Ort die knapp 2.000 der Kirche anvertrauten Behinderten im Frühjahr 1937 noch vielfach fröhlich und unbeschwert ihren Alltag leben (es gibt Filmaufnahmen aus dieser Zeit, die dies eindrücklich belegen), hat der ärztliche Leiter der kirchlichen Einrichtung schon ihr Todesurteil gefällt (vgl. Zeitablauf: 1939 und 19.7.1940).
Am 31.5.1956 wurde Dr. phil. Dr. med. Rudolph Boekh, nun wohnhaft in Füssen im Allgäu, mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Es wurde ihm nie entzogen.


1939 – Der evangelische Theologe D. Hans Lauerer, Rektor der evangelisch-lutherischen Behinderteneinrichtungen in Neuendettelsau, gibt mit Berufung auf die lutherische Zwei-Reiche-Lehre nun auch eine theologische Zustimmung für den geplanten und bevorstehenden Massenmord an Behinderten: "... darum können wir Lutheraner nicht anders als grundsätzlich bejahend zum Staat, zu unserem Staat stehen. Von diesem Standpunkt aus haben wir kein Recht, es zu beanstanden, wenn der Staat ... die Tatsache minderwertigen Lebens konstatiert und auf Grund dieser Konstatierung dann auch handelt." (Hans Lauerer, Das Menschenleben in der Wertung Gottes, 1939; zit. nach Klee, Die SA Jesu Christi, a.a.O., S. 180 f.; siehe auch Anhang in "Der Theologe Nr. 4" über die Zwei-Reiche-Lehre)


Anmerkung: Nach D. Hans Lauerer ist bis heute [2010] eines der beiden Wohnheime für Diakonissen in Neuendettelsau benannt. Die mörderische Heuchelei wird vor allem dadurch deutlich, dass auf der evangelischen Fachkonferenz für Eugenik 1931 in Treysa bereits der Unterscheid zwischen "lebenswert" und "lebensunwert" gemacht wurde und dass die Verantwortlichen der Kirche dort schon über die eventuelle Tötung "lebensunwerten" Lebens debattierten – lange bevor die Nationalsozialisten (die ja auch überwiegend Katholiken oder Protestanten waren) die Ermordung von "minderwertigen Leben" dann auch tatsächlich durchführten.

PS: Und auch der katholische Moraltheologe Joseph Mayer wies den Staat in einem mit kirchlicher Imprimatur (= Druckerlaubnis) versehenen Buch ja schon 1927 darauf hin, dass ein nicht "sozial Tüchtiger" "nötig und heilsam" getötet werden müsse, "damit das Gemeinwohl gerettet werde"
(siehe dazu unsere Meldung oben). Der Staat habe die Pflicht, sich gegen solchen Untergang zu wehren und die Kirche habe "kein Recht, ihm in den Arm zu fallen" (zit. nach Main-Post, 6.7.1985). Der Schriftsteller Ernst Klee fasst die Schuld der Kirchen an diesem Massenmord mit den Worten zusammen: "Beide Kirchen haben massiv dazu beigetragen, denn sie haben die Opfer als Opfer präpariert."


Januar 1940 – Die Vernichtung "lebensunwerten" Lebens, auch "Euthanasie" genannt, beginnt. In den evangelischen Einrichtungen in Bayern erfolgt im April 1940 die Erfassung. Meistens werden die betroffenen Menschen später "vergast".


15.4.1940 – Bekanntmachung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zum Führergeburtstag am 20.4.1940: "Das ganze deutsche Volk fühlt sich an diesem Tage in besonderer Weise mit dem Manne verbunden, der das Geschick des Großdeutschen Reiches mit starken Händen durch die Fährnisse des Krieges steuert. Die Gemeinden unserer Landeskirche gedenken seiner in freudigem Dank und ernster Fürbitte. Sie geloben aufs neue, den Dienst, zu dem sie der Herr berufen hat, mit ganzer Treue auszuführen. Sie sehen darin ihren Beitrag zum Werke des Führers, dass sie durch die Botschaft von Jesus Christus den deutschen Menschen hinführen zu den Quellen aller Kraft, ihn stark machen für den Kampf, ihn freudig machen zu allem Opfer ... Ev.-Luth. Landeskirchenrat; D. Meiser."


2.6.1940 – Landesbischof Hans Meiser hält die Festpredigt zum 50jährigen Jubiläum der Rummelsberger Diakonie. Darin nimmt der Landesbischof zu den Überfällen Deutschlands auf Frankreich, Belgien und die Niederlande Stellung und zu der Besetzung Dänemarks und Norwegens:
"Auf den Schlachtfeldern Flanderns, wo so oft schon Völker um ihr Schicksal gerungen haben, haben unsere Heere einen Sieg errungen, wie er ähnlich in der Geschichte der Völker nicht gefunden wird ... Wir beugen uns vor der Größe dieser Stunde; wir stehend anbetend vor unserem Gott, der die Geschicke der Völker so majestätisch lenkt. Wir gedenken voll Ehrfurcht derer, die so Großes so kühn planten, und derer, die es so tapfer und wagemutig vollbrachten" (zit. nach: Bericht über die Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Diakonenanstalt Rummelsberg; zit. nach Gerhard Wehr, Gutes tun und nicht müde werden, München 1989, S. 175). Vordergründig beschwört der Bischof feierlich die Anbetung "Gottes". Und im Hintergrund werden zu diesem Zeitpunkt die letzten Vorbereitungen für den Massenmord an der Betreuten der Diakonie getroffen.



Ab Juli 1940 – Selektion und Verlegung der Behinderten aus den Einrichtungen der bayerischen evangelischen Diakonie – in staatliche Einrichtungen und von dort in Vergasungsanstalten, zuzm Beispiel in Hartheim bei Linz in Österreich, einer der sechs Behinderten-Vernichtungs-Anstalten. Aus keinem Fürsorgeheim Deutschlands werden dabei mehr Behinderte zur Ermordung abgeholt wie aus den evangelischen Heimen in Neuendettelsau in Bayern.
 Der evangelische ärztliche Leiter Dr. Rudolph Boekh hatte die Behinderten zuvor selbst in acht Kategorien der "Brauchbarkeit" eingeteilt. Und die Leitung der Diakonie bedrohte die Diakonissen in einer Dienstanweisung: "Wer sich weigere, den Abtransport zu begleiten, habe selbstverständlich alle Verantwortung für seine Weigerung zu tragen." (Medienwerkstatt Franken, Als hätte es sie nie gegeben, Nürnberg 2019)
Anfangs sind viele Behinderte noch
"in froher Erwartung eines Ausflugs". Als schließlich Berichte über voran gegangene Ermordungen zu den späteren Opfern durchsickern, kommt es teilweise zu panischen Reaktionen: "Manche sollen sich still in ihr Schicksal ergeben haben, andere flehen um ihr Leben, wehren sich verzweifelt, weinen, schreien und klammern sich in ihrer Todesangst an Ordensschwester oder Pfleger, reißen ihnen fast die Kleider vom Leibe"
(Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.). "Ich will noch nicht sterben, rette mich doch" (zit. nach "Als hätte es sie nie gegeben"). Misstrauischen Eltern, die ihre Kinder vor dieser "Verlegung" wieder zu sich zurückholen wollten (oder Verwandten erwachsener Bewohner) wurde angedroht, dass sie rückwirkend dann womöglich die Unterhaltskosten der letzten Jahre zu bezahlen hätten (Als hätte es sie nie gegeben)
. Die Mord-Aktionen dauern bis Mitte 1941.
Landesbischof Hans Meiser, der im Rausch der Kriegserfolge Deutschlands schwelgt (siehe hier), wird darüber informiert und sagt nichts dazu. Nach dem Krieg rechtfertigen sich manche Verantwortliche, "seelenlose Monster" seien doch nur von ihrem Leiden "erlöst" worden.
(Klee/Petrich, a.a.O.)
Ein staatlicher Angestellter in der Vernichtungs-Einrichtung Hartheim berichtet nach 1945: "Die Angekommenen wurden entkleidet, eine Person bestempelte die Vorgeführten mit der laufenden Nummer, danach fotografierte man sie und führte sie in die Gaskammern. Nach kurzer Zeit waren die Leute in der Gaskammer tot. War die Entlüftung durchgeführt, mussten wir Heizer die Leute von der Gaskammer wegschaffen. Es war nicht leicht, die ineinander verkrampften Leichen auseinander zu bringen und in den Totenraum zu schleifen"
(zit. nach "Als hätte es sie nie gegeben"). Ähnlich kann man es sich bei den vergasten jüdischen Mitbürgern vorstellen.
 

19.7. / August 1940 – Landesbischof Theophil Wurm wendet sich in einem Brief an Reichsinnenminister Wilhelm Frick halbherzig bis unwillig gegen die Ermordung Behinderter in der württembergischen Vergasungsanstalt Grafeneck. Trotz Judenverfolgung, Krieg und anderem staatlichen Terror bescheinigt Wurm dem Führer und der Partei zunächst, bis jetzt auf christlichem Boden zu stehen. Dieser würde mit der "Ausrottung" der Behinderten aber verlassen, auch wenn
Landesbischof Wurm dafür Verständnis signalisiert. Der Bischof erklärte seinen "Protest" vom 19.7.1940 gegenüber den Mord-Behörden damit, dass er es "in erster Linie deshalb" tue, "weil die Angehörigen der betroffenen Volksgenossen [der Opfer] von der Leitung einer Kirche einen solchen Schritt erwarten ... Dixi et salvavi animam meam" [= "Ich habe es gesagt und meine Seele ist gerettet" (so denkt der Bischof)] (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.). Kein Wunder, dass dieser Pflicht-"Protest" nichts bewirkt.
In Bethel/Westfalen wurden nach Angabe der Anstaltsleitung die Behinderten allerdings nicht auf diese Weise in zur Ermordung in Tötungsanstalten gebracht, obwohl auch der dortige Leiter Friedrich von Bodelschwingh kaum kräftiger protestiert, sondern ebenfalls kooperiert hat. Die nationalsozialistischen Behörden richteten sich hier ganz nach den Kirchenführern. Sie unternahmen nichts, wenn die Kirchenverantwortlichen nicht mitmachten. Ein einfaches Nein oder auch nur Bedenken haben also schon genügt, um die Leben zu retten. "Kein Arzt, der sich verweigert hat, ist jemals bestraft worden ... Wenn die gesagt hätten, wir machen da nicht mit, dann wäre da nichts passiert." (Der Medizinhistoriker Dr. phil. Hans-Jürgen Siemen, zit. nach "Als hätte es sie nie gegeben")
Dazu
Friedrich von Bodelschwingh im August 1940: "Sicher wäre es das Beste, wenn die ganze Maßnahme [die Ermordungen] sofort und vollständig eingestellt würde. Kann man sich dazu nicht entschließen, so muss ein geordnetes Verfahren festgelegt werden."* Bei einer Konferenz in Treysa im Jahr 1931 konnte sich Friedrich von Bodelschwingh bereits vorstellen, Behinderte eigenhändig zu kastrieren, und andere Kirchenführer befürworteten bereits zu diesem Zeitpunkt die späteren Ermordungen. Und schließlich vollzogen die Nationalsozialisten damit nur, was einzelne Kirchenführer eben bereits 1931 in die Tat umsetzen wollten (siehe oben). Und so hatte der von Friedrich von Bodelschwingh stark geförderte ehemalige Betheler Oberarzt und Psychiater Dr. Rudolph Boekh aus Neuendettelsau erneut auch im Jahr 1937 die Ermordungen von den Nationalsozialisten gefordert. Dabei hatte der renommierte evangelisch-lutherische Mediziner dem "Führer" Adolf Hitler die Entscheidungsvollmacht zugesprochen (vgl. Zeitablauf: 1937).

Anmerkungen
:
*
Manche Kirchen- und Diakonieführer unterschieden zwischen unterschiedlichen Graden der Behinderung und versuchten, das Leben leichter Behinderter zu schützen, indem sie die Ermordung schwerer Behinderter unterstützten. In den evangelischen Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel holte man zwar die Behinderten nicht zur Ermordung ab. Doch was zu deren Rechtfertigung heute erwähnt wird, hat offenbar eine noch grausamere Kehrseite. Eine unabhängige Untersuchung aus dem Jahr 2014 erhebt den Vorwurf, dass man behinderte Kinder dort dafür direkt töten ließ, und zwar vielhundertfach – was auch in anderen Einrichtungen der evangelischen Diakonie bzw. in den mit ihnen verbundenen staatlichen Einrichtungen geschah, "dezentrale Euthanasie" genannt.
Außerdem geschah dort darüber hinaus anderes Unrecht.
So mussten von 1942-1944 z. B. eine unbekannte Zahl von Kriegsgefangenen und ca. 150-180 Zwangsarbeiter dort hart arbeiten – Menschen die von der deutschen Armee in Osteuropa gefangen und nach Deutschland verschleppt wurden. "Bethel war von Anfang an voll in das Zwangsarbeiter-System integriert" (Prof. Matthias Benad, Leiter der Forschungsstelle für Diakonie und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Bethel, zit. nach Ev. Sonntagsblatt für Bayern Nr. 39, 24.9.2000, S. 7). Und über die lutherische Einrichtung in Bethel soll nach dem Krieg teilweise auch die Flucht hochrangiger Nationalsozialisten ins Ausland organisiert worden sein.



3.8.1941 – Der katholische Bischof Clemens August von Galen prangert als bisher einziger deutscher Bischof in einer Predigt die Vernichtung Behinderter an. In seiner Silvesterpredigt 1941/42 folgte Zeugenaussagen zufolge auch Bischof Gröber aus Freiburg, der 1933 den katholischen Pfarrern die Kritik am Nationalsozialismus verboten hatte.
Auf der anderen Seite treibt gerade Bischof von Galen die Deutschen in den Krieg (siehe dazu Der Theologe Nr. 27 über den "Kreuzzugsprediger" von Galen). Aus Rücksicht auf den Protest von Galens finden die Vernichtungsaktionen (von weiteren ca. 30.000 Behinderten) seither mehr im Geheimen statt. So lässt man z. B. in Irsee im Allgäu, wo die Nonnen von der "Kongregation des Heiligen Vinzenz von Paul" einen großen Teil des Personals stellen, behinderte Kinder darauf hin nicht mehr vergasen, sondern auf staatliche Anordnung hin verhungern (was nach ca. drei Monaten zum Tod führen sollte) oder vergiften. (Ernst Klee/Gunnar Petrich, Film "Alles Kranke ist Last", a.a.O.)
Als Massentöterin wurde in Irsee vor allem die evangelische Krankenschwester Pauline Kneissler eingesetzt, die vor dem Krieg im Kirchenchor sang und evangelischen Kindergottesdienst hielt und schon in den Vergasungsanstalten Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und in Hadamar bei Limburg zuvor Tausende von Menschen mit der Giftspritze tötete. Sie teilte dem Klinikseelsorger jeweils mit, welchem Behinderten er die katholischen Sterbesakramente geben soll. Nachdem der Priester jeweils seinen "Dienst" getan hatte, brachte sie den Behinderten um.

Anmerkung: Die evangelische Massentöterin Pauline Kneissler wurde nach dem Krieg für ihre Verbrechen zu vier Jahren Haft verurteilt und beschwerte sich über dieses Urteil. So rechtfertigt sich die Krankenschwester 1947 mit den Worten: "Mein Leben war Hingabe und Aufopferung, ... nie war ich hart zu Menschen ... Dafür muss ich heute leiden und leiden." (http://www.rav.de/infobrief94/mueller2.htm)
Alle Verbrecher im staatlichen Auftrag hatten dabei nach dem Krieg die offizielle Rückendeckung der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), die in einem Beschwerdebrief an die US-Militärregierung vom 26.4.1946 z. B. schrieb: "Dabei waren Handlungen und Gesinnungen, die heute verurteilt werden, vom damaligen Gesetzgeber als rechtmäßig und gut eingeschätzt. Hierdurch wird das Rechtsempfinden erschüttert und von den Angeklagten eine Rechtseinsicht verlangt, die man nicht erwarten kann." (zit. nach Amtsblatt der Evang.-Luth. Kirche in Bayern)


30.7.1944 – Die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei und der Geistliche Vertrauensrat der Evangelischen Kirche bekunden, dass sich das deutsche Volk "mit Empörung und Abscheu" von der Tat des 20. Juli 1944 abwendet, und sie huldigen Hitler mit Treuetelegrammen. Wörtlich heißt es: "Aus tiefem Herzen danken wir dem Allmächtigen für die Errettung des Führers und bitten ihn, Er möge ihn weiterhin in seinen Schutz nehmen. Mit dieser Bitte soll sich das Gelöbnis neuer Treue und der Entschluss verbinden, uns ernster noch als zuvor der unerbittlichen Forderung der Zeit zu unterwerfen, für die der Führer rastlos sein Alles einsetzt. – Die Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei und der Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche haben nach dem Anschlag auf das Leben des Führers in Treuetelegrammen an ihn den Dank gegen Gott für die gnädige Bewahrung Ausdruck verliehen." (Das Evangelische Deutschland, 30.7.1944)
 
Anmerkung: Die Fortsetzung des Krieges wird weiteren Hunderttausenden von Menschen das Leben kosten, z. B. bei der Bombardierung deutscher Städte.
 

30.6.1945 – Absprachen der Kirchenverantwortlichen mit Landesbischof Meiser hinsichtlich ihres Verhaltens bei der "Vernichtung unwerten Lebens". Nach dem Ende der Massenermordungen in den Tötungsanstalten ging das Morden dezentral weiter bis 1945. Dazu Pfarrer Hilmar Ratz aus Neuendettelsau an Pfarrer Berhard Harleß aus Bruckberg:
"Wie ich neulich von Frau Dr. Asam-Bruckmüller hörte, interessieren sich die Amerikaner sehr für die Sache. Es scheint auch, dass sie versuchen, einen verantwortlichen Mann zur Rechenschaft zu ziehen. Da ist es natürlich nötig, dass unsere Angaben über das, was wir taten, übereinstimmen. Als in dieser Woche Herr Landesbischof Meiser hier war, wurde auch über diese Sache gesprochen und auch von ihm betont, wie nötig es sei, gerade in diesen Dingen möglichst Vorsicht walten zu lassen." (zit. nach Müller/Siemen, Warum sie sterben mussten, Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im "Dritten Reich", Neustadt/Aisch 1991, S. 168 f.)
Der Historiker Dr. Mark Deavin klärte über die Oberärztin Dr. Irene Asam-Bruckmüller auf, die in Ansbach und ab 1941 auch in der Diakonie Neuendettelsau tätig war, in
Als hätte es sie nie gegeben: "Ich habe mehrere Hundert Fälle gefunden, wo es 100 % sicher ist, dass die Menschen in Ansbach mit Medikamenten ermordet wurden, durch Frau Asam-Bruckmüller. Wir sprechen von vielleicht 2500 Menschen, [auch] Kindern, wo sie persönlich verantwortlich ist. Sie ist eine Massenmörderin. Es gibt keine andere Beschreibung. Es ist so."
Doch die mörderische "Ärztin" wurde von den Männern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gedeckt, und die unzähligen Morde an Menschen, die dieser Kirche anvertraut waren, wurden vertuscht.
"Wir möchten uns bitte auf eine gemeinsame Lesart verständigen", so Harleß an Ratz nach einem Besuch von Dr. Asam-Bruckmüller bei Harleß, die berichtete, dass die Amerikaner ihr auf der Spur seien (zit. nach dem Autor Hans-Ludwig Siemen in "Als hätte es sie gegeben"). "Das kann man nur so verstehen, dass sie natürlich wussten, was dort gewesen ist und einfach nach außen hin versucht haben, sich absolut bedeckt zu halten, um zu verhindern, dass Frau Asam-Bruckmüller vor Gericht kommt." (Der Autor Hans-Ludwig Siemen)

Die evangelisch-lutherische Massenmörderin Dr. Irene Asam-Bruckmüller starb im Jahr 2000 in hohem Alter, ohne je für ihre Morde verurteilt worden zu sein.
Pfarrer und Konrektor Hilmar Ratz, der die Pflegeinrichtungen innerhalb der Diakonie in Neuendettelsau seit 1935 leitete, übte dieses Amt nahtlos bis 1968 aus. Er starb 1977 und hatte wie auch Direktor Hans Lauerer (+ 1953) bis zuletzt die Verantwortung der Kirche für die Verbrechen zu verschleiern versucht.
In der Dokumentation Als hätte es sie nie gegeben, wird auch gefragt: "Ist es statthaft, ... dass nach Bernhard Harleß eine Straße in Bruckberg benannt wurde?"
Und da Landesbischof Hans Meiser – wie oben dargelegt – ebenfalls eingeweiht war, wäre es erst recht ein Minimum des Anstands, wenn seine Nachfolger im Bischofsamt in Reue und Scham selbst dafür sorgen würden, die immer noch vielen Meiserstraßen in Bayern endlich umzubenennen.


 
Am 26.2.1946 können "die Pflegeanstalten Neuendettelsau teilweise wieder ihren früheren Zweckbestimmungen zugeführt werden. Ev.-Luth. Landeskirchenrat; D. Meiser". (Amtsblatt der Evang.-Luth. Kirche in Bayern)


27.9.2014 – Welt.de schreibt: Wurden in Bethel Hungerexperimente durchgeführt? War die Kirche also nicht nur beim Holocaust an den Juden, sondern auch bei der Ermordung Behinderter viel aktiver beteiligt als lange bekannt? Der Auslöser für diese Frage ist die Geschichte des Kleinkindes Ingrid Wüstenmann (geboren 1942). Es wird 1944 von Heidelberg in das Kinderkrankenhaus der evangelischen Bodelschwinghschen Anstalten nach Bethel verlegt, wo es nach wenigen Wochen "stirbt". Das Mädchen war in Heidelberg Patientin von zwei Ärzten, die später in der Bundesrepublik Deutschland wegen "Euthanasie" angeklagt wurden. Alle Unterlagen über Ingrid Wüstemann in der evangelischen Einrichtung sind heute aber verschwunden. Die Rechtsanwältin und Autorin Barbara Degen geht diesem Mädchen und vielen anderen Kindern, die in dieser Zeit lebten, nach.
"Plötzlich fand ich da Hunderte Einträge (!) von Kindern, die alle in dieser Zeit im Kinderkrankenhaus von Bethel gestorben waren ... Wir standen unter Schock", berichtet die Autorin. Die heutige Leitung versucht abzuwiegeln, da es angeblich nicht ungewöhnlich sei, dass in einem Kinderkrankenhaus schwerkranke Kinder sterben. Doch die Autorin lässt sich nicht abwimmeln und forscht weiter.
Ihre Schlussfolgerung: "Es waren kleine Kinder und Erwachsene, die getötet, vernachlässigt, verhungert wurden", oder "an Medizinexperimenten starben". Wie anders sei es beispielsweise erklärbar, dass viele Kinder an "Unterernährung" starben, obwohl immer genug zum Essen da war? Dass der damalige Pfarrer und Einrichtungsleiter Bodelschwingh "Widerstand" gegen die Euthanasie-Politik geleistet haben soll, sei von daher nur Teil einer "Bethel-Legende".
Die heutige kirchliche Leitung widerspricht erneut und wirft der Autorin einen "Affront" vor. Was aber geschah damals mit Hunderten bzw. Tausenden von Kindern unter der Obhut der evangelischen Kirche, nicht nur in Bethel?
Geht es womöglich nicht nur um "Protest" oder um "Keinen Protest" gegen die staatliche Euthanasiegesetze, sondern um aktive Massenmorde?
Der Historiker Daniel Siemens fordert nun endlich neue Untersuchungen. "Er kritisiert, dass die Bethel-Forschungen der letzten Jahrzehnte oft von Historikern und Archivaren durchgeführt worden seien, ´die Bethel nahestehen, auch institutionell.`" (welt.de, 27.9.2014,
welt.de)
"
Barbara Degen erklärt, dass Widerstand Pastor Bodelschwinghs gegen die NS-Krankenmorde ein Mythos sei. In Wahrheit, so Frau Dr. Degen, habe der Leiter der Betheler Anstalten von Beginn an kooperiert. Er sei von der Notwendigkeit rassenhygienischer Maßnahmen überzeugt gewesen." (gedenkkreis.de, 8.7.2015)

Zur Erinnerung: Der langjährige lutherische Oberarzt der evangelischen Einrichtungen in Bethel, Dr. Rudolf Boeckh, der 1936 an die evangelisch-diakonischen Einrichtungen nach Neuendettelsau wechselte, lehrte 1937 über zahllose behinderte Menschen: "Diese Verzerrung des menschlichen Antlitzes" sei "dem Schöpfer zurückzugeben".
"Der Anstaltsarzt fragte in einem Vortrag, warum man diese die Allgemeinheit belastenden Geschöpfe nicht im Interesse des gesunden Teils des Volkes vernichtet" (Film "Als hätte es sie nie gegeben", Medienwerkstatt Franken, Nürnberg 2019). Gott habe dem Führer Adolf Hitler die Vollmacht gegeben, über Leben oder Tod dieser Menschen zu entscheiden.
Damit orientiert er sich an Martin Luther, der ein schwerstbehindertes Kind als ein von Satan in die Wiegel gelegtes Stück "seelenloses Fleisch" ("massa carnis") betrachtete und verlangte, es zu "ersäufen".
(zit. nach trisomie21.de; nicht mehr erreichbar) Luther wörtlich: "Wenn man aber von den teufelsähnlichen Kindern erzählt, von denen ich einige gesehen habe, so halte ich dafür, dass sie entweder vom Teufel entstellt, aber nicht von ihm gezeugt sind, oder dass es wahre Teufel sind." (Opery exegetica, Erlanger Ausgabe, II., S. 127)
Zum Vergleich seine Forderung gegenüber den jüdischen Mitbürgern: "Summa: ... dass ihr und wir alle der ... teuflischen Last der Juden entladen werden ..."

Aktuell zu den tödlichen Menschenversuchen an Kindern in Bethel: Interview mit Dr. Barbara Degen , veröffentlicht am 18.8.2023
 



Quellen- und Literaturverzeichnis:

- Benzenhöfer Udo, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009, 2. Auflage
- Degen Barbara, Bethel in der NS-Zeit, Frankfurt am Main 2014
- Die christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus, zit. nach www.humanist.de
- Hentschel Volker, So kam Hitler, Schicksalsjahre 1932-1933, Düsseldorf 1980
- Hoch Erich, Binding Karl, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, Leipzig 1922, 2. Auflage
- Klee Ernst, Die SA Jesu Christi, Frankfurt am Main 1989
- Klee Ernst, Petrich Gunnar, Film "Alles Kranke ist Last", ARD 1988;
   vgl. das gleichnamige Buch, Frankfurt am Main 1983
   sowie den Film auf youtube: youtube.com

- Medienwerkstatt Franken, Als hätte es sie nie gegeben, Film von Vanessa Hartmann, Nürnberg 2019
https://vimeo.com/329796451
- Müller Christine-Ruth, Siemen, Hans-Ludwig; Warum sie sterben mussten, Neustadt an der Aisch 1991
- Wehr Gerhard, Gutes tun und nicht müde werden, München 1989

Weitere Quellen und Literaturangaben: siehe
hier.
 

Der Text  kann wie folgt zitiert werden:
Zeitschrift "Der Theologe", Hrsg. Dieter Potzel, Die Ermordung Behinderter im Dritten Reich und die Unterstützung dieser Euthanasie durch die evangelische Kirche, Wertheim 1999, zit. nach theologe.de/euthanasie.htm, Fassung vom 24.8.2023

 

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